Malerei war für Rudolf Englert bis 1965 im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit den Bildelementen Struktur und Material, eingebettet in ein äußerst sensibles Farbempfinden. So verschieden die Ergebnisse in zehn Jahren auch ausgefallen sind — konstruktive Farbkompositionen, strukturelle und real-räumliche Draht- und Nagelbilder, skripturale Zeichnungen, seriell strukturierte Weißbilder, farbige Mono-typien und Tafelbilder mit neuen Formen und Figurationen —, so eng hängen sie innerlich zusammen.
Sie besitzen eine immanente, intellektuell aufschlüsselbare Folgerichtigkeit, und Ihr zeitliches Nacheinander zeigt Konsequenz. Und sie weisen eine für Rudolf Englert wesenhafte Sensibilität auf, die sich im intuitiven Umgang mit den Bildmitteln wie in der Strenge der Komposition äußert.
Die als neue Werkphase erkennbare Bildreihe, die die Ausstellung beherrscht, wurde seit 1965 gemalt. Sie basiert auf den Erfahrungen der früheren Arbeiten, weist jedoch sehr wichtige inhaltliche und formale Erweiterungen auf, durch die die Bilder an Aktualität und Bedeutung gewonnen haben. Ihr Fundament ist eine intensive Farbigkeit mit einer Fülle feinster Nuancierungen. Auch dort, wo die Farben nun aus hellen in dunkle Bereiche hinüberpendeln, entsteht reine Peinture.
Englerts Können beweist sich Im Setzen subtiler Farbspuren wie größerer Flächen, die beide stets auf den vollen Klang des Bildes gestimmt sind. Die Farbigkeit ist transparent. Sie öffnet einen weiten Bildraum. In ihm konkretisiert sich in Struktur-verdichtung und neuen Farbstufen die Figuration. Zuweilen — jedoch nie in platter Eindeutigkeit — wird ihr Umriß, der eine Gefäßform oder — assoziativ — eine menschliche Gestalt zu umschließen scheint, von Farblinien betont. Diese Figur ist langsam gewachsen; sie wurde vorher in den Monotypien am klar-sten entwickelt und wird gegenwärtig in den Radierungen immer neuen Variationsexperimenten unter-zogen.
In den jüngsten Bildern deuten sich Veränderungen an: Die dem Wesentlichen dienende symmetrische Einfachheit wird durch Randformen gestört, und die Figurationen können Binnenformen erhalten, die sich manchmal sogar verselbständigen. Neue kompositorische Gedanken tauchen auf, die kaum etwas mit dem schon lange in den Figuren aktiven, reizvollen Farbspiel zu tun haben, weil dieses nicht zur Form verfestigt wurde. Jetzt heben Linien die neue Innenform hervor. Aber beide geben der Figuration entweder malerischen Raum oder Volumen. Keinesfalls wirkt sie flach. Auch Collage-Stücke betonen die Bildräumlichkeit, unabhängig davon, ob sie selbst Gegenstände zeigen oder Unerkennbares. Ihr Farbwert und ihre andersartige Form öffnen Tore in die Tiefe. Dieser malerische Gewinn, der die neuen Bilder deutlich von älteren unterscheidet, erfährt zunächst seine ganz konkrete Bestätigung durch die pastose Struktur, die wie schon in früheren Arbeiten in serieller Ordnung die figurativen Teile der Bildfläche rhythmisiert.
Dazu ist jedes einzelne der tastbaren kleinen Elemente mehrfacher Farbträger. Alle zusammen bewirken damit die Vielschichtigkeit des Kolorits. Dann wird das Raumproblem aber noch konkreter angegangen: Der Maler durchbricht die Haut des Bildes, sticht Löcher in die Fläche. Diese sind keine Strukturteile, sondern — weil isoliert und mit Bedacht geschaffen — Schwerpunkte der Komposition.
Englert gewinnt mit ihnen faktische Dreidimensionalität. Der bisher nur vorgestellte Bildraum wird real. Damit wird eine Reminiszenz aufgenommen, denn die früheren Draht- und Nagelbilder besaßen schon — obwohl bildhaft gesehen — einen realen Raum. Doch auch die Löcher haben malerische Wirkung: Sie sind besonders betonte dunkle Flecken — und zuweilen, wenn ihnen eine Farbe unterlegt worden ist, farbige Tupfer — In der Farbräumlichkeit des ganzen Bildes. Ihre Bedeutung wird noch unterstrichen, indem sie Ausgangs- und Eintrittsorte für die Kordeln darstellen, die vor der Bildfläche eine Verspannung bilden. Diese Kordeln, die ebenfalls nicht als Struktur gesehen werden dürfen, haben einen vielfältigen Sinn: Einmal erweitern sie genau wie die Löcher die Räumlich-keit des Bildes. Nur wird statt der Tiefe der Vordergrund in das Bildgeschehen einbezogen. Die Kordeln schaffen durch ein Linien- und Knotengefüge vor und auf der eigentlichen Fläche auch echte Dreidimensionalität. Ferner stehen diese Kordelstränge in funktionaler Beziehung zur Figuration: Sie schnüren sie ein, fesseln sie, fügen ihnen ein überraschendes Maß an Realität zu — die aber sofort verloren geht, sobald an Realität gedacht wird — und akzentuieren die Formen der Figur. Oder aber die Kordellinien lösen sich äußerlich von ihr, bilden selbst Formen und erhalten dadurch eine fast konkrete Zeichenhaftigkeit. Doch schließen sich beide Möglichkeiten nicht aus. Die Verspannungen dienen beiden Aufgaben. Natürlich sind sie nicht äußerlich aufgesetzt, sondern durch ihre malerische Wertigkeit im Bild integriert, so einmal durch ihre natürliche oder kolorierte Farbigkeit oder durch die Tonwerte, die ihr Schatten im Bildgefüge hervorruft.
Und hier entsteht sogar bei wandernder Lichtquelle eine leichte, aber reale Bewegung im Bild. Schließlich treten sie in ein Spannungsverhältnis zum reinen Schönheits-Reiz der Arbeit. Die feine Peinture könnte leicht zu einem geschmacksbestimmten Ästhetizismus verführen. Die Löcher, Kordeln und Knoten bewahren davor. Die Fülle der Funktionen, die diese drei Elemente im Bildganzen übernommen haben, beweist ihre Notwendigkeit. Sie verschafft der Arbeit ihren zeitgemäßen Rang. Die Materialbilder von Rudolf Englert, die in ihrer Ambivalenz zwischen Struktur und Farbe, Volumen und Fläche, Figur und Raum nur relativ, soweit das Faktische getroffen wird, beschreibbar sind, entziehen sich als Ausdruck eines künstlerischen Geistes jeder festlegenden Deutung wie jedes andere Kunstwerk auch. Denn es wird von der Intuition, der Emotion und der Intelligenz des Malers gleichermaßen ge-tragen und beinhaltet also subjektive Elemente, die unsprachlich sind.
Dennoch können Grundzüge erkannt werden, die das Wesen der Bilder treffen mögen: Die lange, Immer wieder durchdachte, selbst an schon ausgestellten Bildern wieder begonnene Bearbeitung führt eher zu stillen, zurückhaltenden Kompositionen als zu lauten, auf Effekte zielenden Bildern. Der Künstler gewinnt durch sie eine Folge von Arbeiten mit gleichhoher Qualität. Ihre Figuration, Zeichenhaftigkeit und Stille, aber auch ihre Empfindungswerte des Lyrischen und Musikalisch-Rhythmischen geben ihnen einen meditativen Zug, etwas Ikonenhaftes.
Jedes Werk, das im freien Spiel mit den Bildmitteln und in der strengen kompositionellen Ordnung des Malers Freiheitsempfinden und seinen Sinn für Gesetzmäßigkeit spie-gelt, strahlt die Aufforderung aus, sich in die Arbeit zu versenken, um ihren Reichtum in jener Einfach-heit zu entdecken, die einem Kunstwerk eigen ist. Rudolf Englert nimmt mit seinem Werk, weil er es Moderichtungen nicht unterworfen, sondern in eigen-williger Beharrlichkeit konsequent entwickelt hat, einen eigenständigen und bedeutungsvollen Platz im Kunstgeschehen unserer Zeit ein.
März 1967 Jürgen Weichardt